Im Anschluss an unsere GV durften wir den Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Tobias Straumann als Referenten begrüssen. Unter dem Titel “Zeitenwende – Rhetorik oder Realität?” beleuchtete Straumann anhand geschichtlicher Beispiele seine Einschätzung der westlichen Politik.
Zunächst zitierte er aus der Rede des deutschen Bundeskanzlers Scholz vom 27.2.2022, in der dieser den Ausdruck der Zeitenwende prägte und sagte, dass die Welt nach dem 24.2.2022 nicht mehr dieselbe sei wie die Welt davor und es darum gehe, ob Macht das Recht brechen dürfe.
Straumann stellte die Frage, ob der Westen in der Lage sei, angemessen auf die russische Aggression zu reagieren. Manches deute darauf hin, dass die Reaktion zu zaghaft sei, argumentierte er. Insbesondere sei der Umfang der Hilfe an die Ukraine immer noch bescheiden, vor allem wenn man sie in Bezug zum gesamten BIP der EU und der USA setze.
Aber es gebe doch einige Hinweise, dass sich die von Scholz beschworene Zeitenwende doch immer stärker abzeichne, führte Straumann aus. So habe die westliche Politik ihre anfänglichen Fehleinschätzungen vollumfänglich korrigiert. So war man im Februar 2022 davon ausgegangen, dass die ukrainische Armee den Vormarsch der russischen Armee kaum würde stoppen können. Die Biden Administration schlug der ukrainischen Regierung sogar vor, sich ausser Land in Sicherheit zu begeben. Heute ist eine solche Politik nicht mehr vorstellbar.
Aber auch historische Beispiele legen die Vermutung nahe, dass die westlichen Demokratien in der Lage sind, angemessen zu reagieren. Es habe zwar jeweils lange gedauert, aber am Schluss hätten die westlichen Verbündeten ihre Ziele erreichen können. Straumann nannte drei Beispiele:
- Die britische Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland war lange Zeit eine Politik der Zurückhaltung und Zugeständnisse. Heute wissen wir, dass dieses sogenannte Appeasement falsch war, aber die Politik fand im britischen Establishment, den Medien oder auch dem Königshaus breite Unterstützung. Die Gründe sind bis heute nachvollziehbar. Nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg war die Stimmung in Grossbritannien niedergeschlagen, man wollte nie wieder einen Krieg erleben. Ausserdem war die britische Staatsschuld sehr hoch, so dass die Kürzung der Militärausgaben finanzpolitisch notwendig war. Und zur Sicherung einer kollektiven, dauerhaften Sicherheit hatten die Siegermächte in den 1920er Jahren den Völkerbund mit Sitz in Genf gegründet. Es gelangt nicht, Nazi-Deutschland mit einer Appeasement-Politik zu besänftigen, weil Hitler schon längst beschlossen hatte, einen Krieg in Europa zu beginnen. Bis die britische Regierung dies erkannte, dauerte es lange, aber die Reaktion kam gerade noch rechtzeitig.
- Als die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre ihre nuklearen Sprengköpfe in Osteuropa modernisierte und ausbaute, waren in Westeuropa viele Bürgerinnen und Bürger dagegen, angemessen darauf zu reagieren. Vor allem in Deutschland war die Opposition gross. SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt verlor die Unterstützung des Koalitionspartners FDP und musste zurücktreten, weil die SPD-Basis den NATO-Doppelbeschluss nicht mittrug. Dass die Kohl-Regierung daran festhielt, war wichtig für die weitere Entwicklung des Kalten Kriegs. Sie zeigte, dass der Westen gewillt war, an der Politik der Abschreckung festzuhalten. Sie signalisierte der Sowjetunion, dass sich ihr aggressives Verhalten nicht auszahlen würde. Der Entscheid, den NATO-Doppelbeschluss zu unterstützen, war jedoch auf Messers Schneide.
- Als letztes Beispiel zitierte Straumann die Schweizer Geschichte. 1848 wurde zwar der Bundesstaat gegründet, allerdings war dieser unzureichend organisiert und konnte sich mehr schlecht als recht mittels limitierter Zolleinnahmen finanzieren. Nach dem Schock des deutsch-franz. Krieges organisierte sich der Bundesstaat neu, allerdings war man auch auf den 1. Weltkrieg nicht vorbereitet. Es gab zwar eine Armee, die aber nie getestet worden war. Auch die Nahrungsmittelversorgung war prekär. Im Zuge des Generalstreiks von 1918 und der bestehenden Wirtschaftskrise wurde die Armee zu Sparzwecken geschrumpft und erhielt erst mit der Errichtung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland in den 1930er Jahren wieder vermehrt Beachtung. Auch heute wäre die Schweizer Armee auf einen Überfall, wie ihn die Ukraine erlebt, nicht gewappnet. Es dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, um die Schweizer Armee wieder zu einer schlagkräftigen Truppe zu machen.
Es sei also falsch, wenn man heute dem Westen Dekadenz bescheinige und deshalb glaube, die Diktaturen würden den Systemwettbewerb gewinnen. Die verzögerte Reaktion der westlichen Länder sei typisch.
Wenn man so argumentiert, werde auch übersehen, wie stark die westlichen Länder ihre Position bereits verändert hätten. Die Finanzierung für die Ukraine ist sichergestellt. Deutschland erlaubt neuerdings den Einsatz seiner gelieferten Waffen gegen militärische Ziele in Russland. Auch in der finanzpolitischen Debatte in der Schweiz werden die wichtigen Themen zunehmend angesprochen.
Zum Schluss nahm Dr. Straumann noch Stellung zu Fragen aus dem Publikum. Sein Fazit am Ende war, dass die Welt heute tatsächlich eine andere ist als vor zwei Jahren und eine Beendigung des Ukrainekrieges nicht absehbar sei. Die Geduldsspanne der westlichen Öffentlichkeit sei eher kurz. Trotzdem zeigte sich Straumann zuversichtlich. Putins Vorstoss sei gestoppt. Wie der Krieg ende, wisse er nicht. Vielleicht komme zu einem «ewigen» Waffenstillstand wie in Korea, bei dem die von Russland annektierten Territorien implizit akzeptiert werden.
Von der Konferenz zum Frieden in der Ukraine Mitte Juni 2024 auf dem Bürgenstock erwartet Dr. Straumann keine durchschlagenden Resultate. Ein Frieden wird hinter den Kulissen verhandelt, damit niemand das Gesicht verliert, wie er sagt.